Nudging: Die Fliege als Handlungsanstoß zur Verhaltensänderung

von Über den Otter...

Stell dir vor, du stehst auf der Herrentoilette des Flughafen Schiphols in Amsterdam am Urinal. Du befindest dich gerade im ewigen Kampf gegen die Schwerkraft. Doch auf einmal fällt dir etwas auf: eine kleine Fliege, die mitten im Urinal zu landen scheint. Erst denkst du, es sei eine echte Fliege, aber schnell erkennst du, dass es sich um ein kleines Kunstwerk handelt. Du bist verwirrt, aber auch fasziniert. Den Kampf gegen die Schwerkraft jedenfalls gewinnst du zielsicher.

So oder so ähnlich muss es den männlichen Besuchern am Flughafen Schiphol in den 90er Jahren ergangen sein. Die Fliege als Handlungsanstoß zur Verhaltensänderung. Ein perfektes Beispiel für Nudging! Laut Aad Kieboom – dem niederländischen Volkswirt mit der „Fliegen-Idee“ – und Jos van Bedaf – dem Leiter des Reinigungsteams – konnte die Treffsicherheit der Herren am Urinal signifikant gesteigert werden. Die vergossene Menge auf der Herrentoilette habe sich laut eigener Aussage um 80% verringert. Dies habe zu einer Einsparung von geschätzten 8% der Kosten für die Toilettenreinigung geführt (Luzerner Zeitung, 2013; Thaler & Sunstein, 2008). Seitdem ziehen die Urinal-Fliegen und damit auch das Nudging um die Welt!




Definition: Was ist Nudging?

Nudging (dt. „anstupsen) ist eine Methode aus der Verhaltensökonomie, bei der subtile Veränderungen in der Umgebung einer Person vorgenommen werden, um ihr Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Entscheidungsfreiheit der Person bleibt dabei gewahrt.

Pro Tag treffen wir Menschen etwa 20.000 Entscheidungen (Wirtschaftswoche, 2008). Diese können wir natürlich nicht alle bewusst und rational abwägen, sondern verlassen uns oft auf unsere Intuition und unsere Emotionen. Beim Nudging macht man sich dies zu Nutze: So werden kleine Handlungsanstöße – sogenannte Nudges – im Umfeld einer Person platziert, um sie unterbewusst in eine Richtung zu „stupsen“.


Der Begriff „Nudging“ stammt von den Wissenschaftlern Richard Thaler und Cass Sunstein, die das Konzept in ihrem gleichnamigen Bestsellerbuch aus dem Jahre 2008 geprägt haben. Heutzutage sind Handlungsanstöße in vielen Bereichen, wie zum Beispiel dem Marketing, der Bildung, der Gesundheitsvorsorge oder der Psychologie, weit verbreitet. Einige Regierungen haben sogar ganze „Nudge-Units“ gegründet. Dies sind Expertengruppen, die Nudging-Strategien entwickeln, um gesamtgesellschaftliche Herausforderungen zu lenken (Thaler & Sunstein, 2008).

Wie funktioniert das „Anstupsen“? Das Märchen des rationalen Menschen

Ökonomen haben lange Zeit die Annahme vertreten, dass wir Menschen rein rationale Wesen sind. Als sogenannter „Homo oeconomicus“ würde wir uns beim Entscheiden auf die Maximierung des Nutzens konzentrieren. Laut dieser traditionellen Sichtweise würde die Entscheidungsfindung immer wie folgt ablaufen: Wir definieren ein Ziel, suchen nach Handlungsalternativen, sammeln Informationen, bewerten diese Alternativen und wählen schließlich die Option mit dem höchsten Nutzen. Dabei würden wir nie von dieser Vorgehensweise abweichen und uns auch nicht von anderen Faktoren, wie zum Beispiel Emotionen, Erfahrungen oder Vorurteilen, beeinflussen lassen (Spreer, 2018).


Selbstverständlich ist dies ein rein theoretisches Modell. Dennoch wird deutlich, dass wir Menschen – selbst in der Theorie – nicht immer nur rational handeln können. Im Gegenteil: oft sind wir mentalen Abkürzungen („Heuristieken“) oder Denkverzerrungen („Biases“) ausgeliefert. Die „Tabletop Illusion“ von Shepard (1990) ist ein bekanntes Beispiel, das zeigt, wie anfällig wir für derartige „Denkfehler“ sind:




Von der rational betrachteten optimalen Entscheidung mit dem maximalen Nutzen sind wir demnach oft sehr weit weg. Die Ursachen hierfür sind die hohe kognitive Anspannung bei der rationalen Entscheidungsfindung gepaart mit unserer begrenzten Gehirnkapazität. Die schiere Anzahl an Entscheidungen, die täglich getroffen werden müssen, kommt erschwerend hinzu.


Oft verzichten wir daher darauf kognitive Anspannung aufzubringen und treffen Entscheidungen basierend auf Intuition und Emotion. Probiere dich zum Beispiel doch mal an folgender Aufgabe:

Ein Bleistift und ein Radiergummi kosten zusammen 1,10€.

Der Bleistift kostet 1€ mehr als das Radiergummi.

Wieviel kostet das Radiergummi?



Ist dir intuitiv 0,10€ als richtige Antwort in den Sinn gekommen? Leider falsch! Du hast dich auf dein sogenanntes „System 1“ verlassen. Das bedeutet, du hast es vermieden, die Aufgabe durch den Einsatz von kognitiver Anspannung rechnerisch zu lösen. Stattdessen bist du deiner Intuition gefolgt.


Das „schnelle Denken“ von System 1 erfolgt automatisch, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung. Intuitive Entscheidungen basieren oft auf angeborenen oder erlernten Verhaltensmustern. Wir entscheiden schnell, da es uns leichtfällt, das entsprechende Muster abzurufen. Doch dies macht uns anfällig für (1) mentale Abkürzungen, wie du bei der Rechenaufgabe mit dem Bleistift gemerkt hast, oder für (2) Denkverzerrungen, wie das Beispiel mit den Tischplatten gezeigt hat.


Lautete deine Antwort auf die Rechenaufgabe oben hingegen 0,05€? Das ist richtig! Der Bleistift kostet 1,05€ und das Radiergummi kostet 0,05€. Somit ist der Stift exakt 1,00€ teurer als der Radierer. Du hast dich auf dein „langsames Denken“ verlassen. Dabei hast du die vorliegenden Informationen rational verarbeitet und die Aufgabe rechnerisch gelöst. Dabei wirst du festgestellt haben, dass dies mit einiger oder sogar größerer kognitiver Anspannung verbunden war.


Selbstverständlich ist unser Gehirn nicht wirklich in zwei Systeme unterteilt. Dennoch hat sich diese Verbildlichung in Literatur und Praxis durchgesetzt, da Sie uns dabei hilft, die abstrakten Prozesse im Gehirn greifbarer zu machen und somit besser zu verstehen.


Auch muss dir bewusst sein, dass Entscheidungen nicht immer nur mit einem der beiden Systeme getroffen werden, sondern dass es oft vielmehr ein Zusammenspiel ist. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch: Unsere mentale Anspannung ist begrenzt. Deshalb ist unser intuitives Denken (System 1) bei vielen Entscheidungen führend und mentale Anstrengung (System 2) wird nur aufgebracht, wenn System 1 unsicher ist (Spreer, 2018).

Zusammenspiel von System 1 und System 2: Die Spielerin im Bild wird kognitive Anspannung darauf verwenden, sich zu konzentrieren, um den Ball anzuvisieren (System 2). Der Schlag mit dem Schläger wird aber – aufgrund ihrer Erfahrung – automatisiert ablaufen (System 1)


Beim Nudging macht man sich diese Abneigung gegenüber kognitiver Anspannung zu Nutze. Ein Handlungsanstoß wird bewusst gesetzt, um unsere Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Dies ist möglich, da wir eben nicht jede Entscheidung rein rational treffen, sondern uns oft auf Intuition und Emotion verlassen. Kurzum: Unsere Entscheidungen sind oft empfänglich für Beeinflussung (Spreer, 2018; Thaler & Sunstein, 2008). Warum sonst sollten wir uns zum Beispiel dafür entscheiden, mit dem Rauchen anzufangen? Rein rational betrachtet gibt es hierfür kaum Argumente.

Was ist ein Entscheidungsarchitekt?

Entscheidungsarchitekten sind Personen, die bewusst die Rahmenbedingungen gestalten, unter denen Menschen Entscheidungen treffen. In der Praxis können sie oft verschiedene Faktoren beeinflussen. Hierfür nutzen sie in der Regel verschiedene Nudging-Strategien, die in einem der nächsten Absätze detailliert vorgestellt werden (Thaler & Sunstein, 2008).

Was sind Nudges?

Die Verhaltensökonomen Thaler und Sunstein (2008) definieren einen Nudge wie folgt:

„Unter Nudge verstehen wir also alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersagbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern. Ein Nudge muss zugleich leicht und ohne großen Aufwand zu umgehen sein. Es ist nur ein Anstoß, keine Anordnung“.

Thaler & Sunstein, 2008


Was ist Sludge?

Der Begriff „Sludge“ wird in der Verhaltensökonomie verwendet, um unnötige oder übermäßige Hindernisse in Entscheidungsprozessen zu beschreiben. Im Gegensatz zum „Nudge“ zielt es darauf ab, Menschen von einer bestimmten Handlung abzuhalten. Dies kann durch einen „schlechten Anreiz“ oder durch einen unangenehmen, langwierigen und komplizierten Prozess geschehen. „Sludge“ kann unterschiedliche Formen annehmen, wie zum Beispiel unnötig lange Formulare, unübersichtliche Menüs oder die automatische Verlängerung eines Testabonnements. Im Online-Kontext spricht man auch oft von sogenannten Dark-Patterns (Thaler & Sunstein, 2008).


Ein bekanntes und anschauliches Beispiel für „Sludge“ ist die Deaktivierung Deines Amazon-Kontos. Das Video von Deceptive Design zeigt gut auf, welche Hürden Nutzer aus dem Weg räumen müssen, um ihren Account zu löschen.




Welche Arten von unterschiedlichen Nudges gibt es?

In ihrem Bestseller-Buch „Nudge“ unterscheiden Thaler und Sunstein (2008) zwischen insgesamt zehn verschieden Arten von Nudges.

 1. Default – Voreinstellungen

Die Anpassung der Voreinstellung in die gewünschte Richtung ist einer der bekanntesten Nudges. Die Voreinstellung tritt ein, wenn die Menschen nicht aktiv werden. Dies macht sie extrem wirksam (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Ein Beispiel für „Default“-Nudges ist:

Die Organspende

Um in Deutschland Organspender zu werden, müssen wir aktiv werden und unsere Zustimmung dafür geben (Opt-In). Im Gegensatz dazu sind die Menschen in Österreich automatisch Organspender, es sei denn, sie widersprechen aktiv dagegen (Opt-Out). Dank dieser angepassten Voreinstellung hat Österreich eine wesentlich höhere Organspenderquote als Deutschland und kann betroffenen Patienten so womöglich schneller helfen.


2. Simplification – Vereinfachung

Bei der Vereinfachung werden komplizierte Inhalte einfacher und verständlicher dargestellt. Hierdurch haben Menschen die Möglichkeit eine informierte Entscheidung zu treffen. Dies kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Handlung angestoßen wird. Doch Vorsicht: Wie wir im Verlauf dieses Artikels gelernt haben, werden bei weitem nicht alle Entscheidungen rein rational getroffen. Ein Beispiel für fehlende Vereinfachung sind administrative Schreiben von Behörden, die oft so kompliziert gefasst sind, dass die gewünschte Handlung ausbleibt (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Ein Beispiel für einen „Simplification“-Nudge ist:

Die Lebensmittel-Ampel

Bei der Lebensmittel-Ampel handelt es sich um eine Kennzeichnung, die prominent auf der Lebensmittelverpackung platziert ist und über die Nährstoffe des Produkts informiert. Dabei werden die Anteile an Kalorien, Fett, Zucker, Salz und Eiweißen gelistet und – wie bei einer Verkehrsampel – mit Farben bewertet. Grün steht dabei für einen niedrigen Gehalt, Gelb für mittel und Rot für einen hohen Gehalt des Nährstoffes. So sollen Verbraucher auf einen Blick erkennen können, welche Produkte gesund sind und welche nicht. Mithilfe der Kennzeichnung soll die Entscheidungsfindung der Verbraucher vereinfacht werden, indem wichtige Informationen in leicht verständlicher Form präsentiert werden.



Mit der Lebensmittel-Ampel informiertere Entscheidungen im Supermarkt treffen.


3. Soziale Normen

Bei diesem Nudge werden soziale Normen hervorgehoben. Es wird aufgezeigt, dass bereits ein Großteil der Mitmenschen das gewünschte Verhalten umsetzt. Gerade in Unsicherheitssituationen orientieren wir uns oft am Verhalten anderer Personen, weil wir glauben, dass sie spezifischeres Wissen über die Situation besitzen und so fundierter entscheiden können (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). So wird das wahrgenommene Risiko der eigenen Entscheidung gesenkt (Spreer, 2018). Im digitalen Kontext der Behaviour Patterns spricht man oft von Social Proof. Ein Beispiel für einen Nudge, der auf sozialen Normen basiert ist:

Die Anzeige des Spendenziels bei Crowdfunding-Kampagnen

Beim Crowdfunding wird oft öffentlich aufgezeigt, wie viele andere Personen bereits gespendet haben und wer diese Personen sind. Diese Information kann Menschen dazu bewegen ebenfalls zu spenden, da sie sehen, dass viele andere es bereits getan haben.


Spender einer GoFundMe-Kampagne werden zum Teil öffentlich genannt.


4. Ease and Convenience – Einfachheit und Bequemlichkeit

Wenn das gewünschte Verhalten einfacher und bequemer ist als alternative Optionen, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen es ausführen (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Ein Beispiel für einen „Ease and convenience“-Nudge sind:

Die automatischen Anmeldungen auf Webseiten

Wenn ich mich auf einer Webseite für einen Service registrieren muss und kann mich dabei über bestehende Konten, wie Google oder Meta, anmelden, erleichtert dies die Registrierung und damit auch deren Wahrscheinlichkeit. Müsste ich alle benötigten Daten hingegen händisch eingeben, sinkt die Wahrscheinlichkeit der Anmeldung.



Single-Sign-On mittels Google-Konto bei der Untappd-App.



5. Disclosure – Aufzeigen aller Bestandteile

Bei diesem Nudge handelt es sich um die Offenlegung aller Informationen. Hierdurch können Nutzer – ähnlich wie beim „Simplification“-Nudge – eine informierte Entscheidung treffen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit zur Ausführung der gewünschten Handlung (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Ein Beispiel hierfür ist:

Transparenz im Bankwesen

Banken und Finanzinstitute können Nudges einsetzen, um Verbraucher dabei zu unterstützen, informierte Entscheidungen zu treffen, indem sie transparente und leicht verständliche Informationen über ihre Produkte und Dienstleistungen bereitstellen. Ein Beispiel hierfür sind die jährlichen Gebührenübersichten, die einige Banken ihren Kunden zur Verfügung stellen. Leider sind Verträge zu Finanzprodukten oft nicht nach den Prinizipien der Vereinfachung und der Offenlegung gestaltet, sodass es für Laien schwierig ist, alle anfallenden Kosten zu erfassen und eine informierte Entscheidung zu treffen. Dies gilt dann als Sludge. Oder weißt du, welche Kosten ein Agio bei einem Bausparvertrag abdeckt?

6. Warnungen & Grafiken

Warnungen und explizite Grafiken können unser Verhalten beeinflussen (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Ein bekanntes Beispiel hierfür sind:

Schockbilder auf Zigarettenverpackungen

Die Idee dahinter ist, dass das Ansehen der Bilder (z.B. von schwarzer Raucherlunge, Krebsgeschwüren oder anderen gesundheitlichen Schäden, die durch das Rauchen verursacht werden) eine emotionale Reaktion beim Betrachter hervorruft und das Risiko des Rauchens auf eine unmittelbare und visuelle Weise verdeutlicht. Dies kann dazu beitragen, das Verhalten von Rauchern zu ändern, indem es ihre Wahrnehmung des Risikos des Rauchens verstärkt und ihre Bereitschaft erhöht, mit dem Rauchen aufzuhören. Die Folgen des Rauchens sind meist bekannt, aber oft nicht so stark sichtbar, wie bei den Schockbildern.


Warnungen sind oft eine effektive Handlungsaufforderung.



7. Precommitment Strategies – Selbstbindungsstrategien

Ohne eine vorherige Bindung an eine Handlung, werden wir oft Opfer der Prokrastination. Schließlich ist das Planen und Ausführen von zukünftigen Handlungen nicht einfach, diese jedoch auf morgen zu verschieben geht uns oft leicht von der Hand (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Selbstbindungsstrategien stellen sicher, dass den Worten auch Taten folgen. Ein Beispiel für einen „Precommitment Strategies“-Nudge ist:

Das Fitnessstudio-Abonnement:

Abos in Fitnessstudio haben nicht selten lange Laufzeiten und keine Möglichkeiten zur Kündigung vor Laufzeitende. Der Abschluss eines solchen Abos ist eine Selbstbindungsstrategie. Schließlich haben wir das Geld – zumindest mental – bereits ausgegeben und kriegen es nicht zurück. Hierdurch sind wir motivierter regelmäßig zu trainieren.

8. Reminder – Erinnerung

Eine simple Erinnerung ist häufig eine effektive Handlungsaufforderung. Sie ruft der angestupsten Person das gewünschte Verhalten wieder in Gedanken (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Ein Beispiel für einen „Reminder“-Nudge ist:

Die Terminerinnerung

Arztpraxen, Friseursalons und andere Dienstleister senden oft Erinnerungsnachrichten per E-Mail oder SMS, um Kunden an ihre bevorstehenden Termine zu erinnern. Nach gleichem Prinzip funktionieren auch Push-Mitteilungen von Apps, die zum Beispiel an Bewegungsziele erinnern.


Reminder-Nudge als Push-Mitteilung auf dem Smartphone.


9. Feedback – Rückmeldung

Bei diesem Nudge wird das Verhalten einer Person mithilfe von Feedback bewertet. Dies soll durch Kritik zu einer Verhaltensänderung oder durch Lob zur Beibehaltung des Verhaltens führen (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Ein Beispiel für einen „Feedback“-Nudge sind:

Geschwindigkeitsanzeigen mit Smileys

Geschwindigkeitsanzeigen im Straßenverkehr, die das Tempo der Autos mithilfe von Smileys bewerten, sind eine weit verbreitete Feedback-Strategie. Anstelle der Smileys könnten die Städte und Gemeinden dort auch Blitzer aufstellen und Temposünder bestrafen. Stattdessen soll das Feedback zur Geschwindigkeit den Autofahrer zum gewünschten Verhalten auffordern.

10. Expecting Errors – Erwartete Fehler

Flüchtigkeitsfehler passieren immer wieder mal. Diese Art von Nudge geht im Voraus von möglichen Fehlern aus und möchten diesen durch eine Anpassung im Ablauf vorbeugen (Die Debatte, 2021; Thaler & Sunstein, 2008). Ein Beispiel für einen „Expecting Errors“-Nudge sind:

Autokorrektur in Suchmaschinen

Wenn Nutzer eine Suchanfrage in einer Suchmaschine eingeben, schlägt die Autokorrekturfunktion mögliche alternative Suchbegriffe vor. Diese Funktion kann als Expecting Errors-Nudge betrachtet werden, da sie den Benutzer daran erinnert, dass er möglicherweise einen Tippfehler gemacht hat oder dass seine Suchanfrage möglicherweise unklar ist und weiter verfeinert werden kann.

Autokorrektur in der Suchmaschine: Falsche Schreibweisen werden korrigiert und Suchanfragen verfeinert.


Begriffsunterscheidung: Nudges vs. Behaviour Patterns

Nudges und Behaviour Patterns sind zwei verschiedene Konzepte, die sich aber zum Teil überschneiden. Ein Nudge ist ein sanfter Anstoß, der das Verhalten einer Person in eine bestimmte Richtung lenken soll, ohne dabei ihre Wahlfreiheit einzuschränken. Nudges arbeiten oft mit psychologischen Prinzipien wie sozialen Normen, Einfachheit oder Feedback (Thaler & Sunstein, 2008).


Behaviour Patterns (Verhaltensmuster) hingegen beziehen sich auf wiederkehrende Verhaltensweisen, die Menschen an den Tag legen. Diese sind oft automatisiert und werden ohne großes Nachdenken ausgeführt (System 1). Doch auch sie benötigen einen Trigger. Daher kommt es vor, dass sich das Behaviour Pattern und die dazugehörige Nudging-Strategie stark ähneln. Dies ist zum Beispiel beim Social-Proof (oder den Nudges, die auf sozialen Normen basieren) der Fall (Spreer, 2018). In der Praxis sprechen einige Marketeers auch von „Digitalen Nudges“.


Kritik am Nudging: Liberaler Paternalismus vs. Freie Wahl

Anhänger der freien Wahl fordern, dass der Staat und die Unternehmen, die Bürger selbst entscheiden lassen sollen. Statt sie mit Handlungsanstößen womöglich zu beeinflussen, sollte man den Menschen möglichst viele Optionen anbieten, aus denen sie dann, die für sie beste auswählen können. Dieser Skepsis gegenüber dem Nudging liegen laut Thaler und Sunstein (2008) eine falsche Annahme sowie zwei Missverständnisse zu Grunde.


Die falsche Annahme ist, dass fast alle Menschen fast immer Entscheidungen treffen, die in ihrem Interesse oder zumindest besser als Entscheidungen sind, die andere für sie treffen würden. Wenn dies so wäre, dürfte die Obesitas-Rate in den USA nicht so hoch sein. Wo doch wissenschaftliche bewiesen ist, dass sich hierdurch das Risiko für Herzkrankheiten und Diabetes stark erhöht. Selbstverständlich ist uns Menschen nicht nur der gesundheitliche Nutzen unserer Lebensmittel, sondern auch der Geschmack wichtig. Wenn wir jedoch jede Entscheidung rein rational treffen würden, müssten die gesundheitlichen Vorteile der Lebensmittel gegenüber dem Geschmack überwiegen. Schließlich wirken sie sich langfristig positiv auf unser Wohlbefinden aus. Zwar wäre es vermessen zu sagen, dass jede fettleibige Person irrational handelt, jedoch muss die These – bei rein rationaler Betrachtung – erlaubt sein, dass sie nicht immer die für sie optimale Entscheidung trifft. Vorausgesetzt es herrschen keine anderen limitierenden Faktoren (z.B. Geldnot), die eine freie Entscheidungsfindung beeinflussen.


Um dies zu veranschaulichen, stelle dir folgende Situation vor: Ein Schachneuling tritt gegen einen erfahrenen Spieler an. Es ist zu erwarten, dass der Neuling verlieren wird, da er schlechtere Entscheidungen trifft als der Profi. Mit einigen hilfreichen Hinweisen hätte man diese Entscheidungen leicht verbessern können. In vielen Lebensbereichen sind wir Ottonormalverbraucher jedoch die „Schachneulinge“ die erfahrenen Profis gegenüberstehen.


Generell ist es so, dass Menschen gute Entscheidungen treffen, wenn sie über viel Erfahrung verfügen, ausreichend Informationen haben und ein schnelles Feedback erhalten. Dies ist zum Beispiel bei der Wahl aus vertrauten Eissorten der Fall – meistens jedoch nicht bei der Entscheidung für eine Investmentoption. Hier treffen viele Menschen oft schlechtere Entscheidungen, da sie über wenig Erfahrung verfügen, schlecht informiert sind und nur wenig Feedback erhalten.

Entscheidungen über Investmentoptionen sind für viele Menschen schwierig zu treffen, da sie wenig Erfahrung haben, schlecht informiert sind und kein direktes Feedback erhalten. Bei der Wahl aus vertrauten Eissorten hingegen ist dies anders.


Das erste Missverständnis lautet wie folgt: Es ist möglich eine Einflussnahme auf die Entscheidungen von Menschen zu vermeiden. Laut Thaler und Sunstein (2008) ist dies nicht möglich, da in zahlreichen Situationen eine Organisation oder ein Akteur eine Entscheidung treffen muss, die sich zwangsläufig auf das Verhalten anderer Menschen auswirkt. Ein simples Beispiel hierfür ist die Anordnung und Position von Speisen in einer Unternehmenskantine. Egal welche Entscheidungen getroffen werden, sie beeinflussen indirekt die Essensauswahl der Mitarbeiter. Warum dann sich diese Situation nicht zu Nutze machen und für bessere Entscheidungen durch Handlungsanstöße sorgen?

Nicht jeder will unser Bestes. Dieser Gefahr sind sich Thaler und Sunstein (2008) durchaus bewusst. Doch der Geist ist bereits aus der Flasche. Nudges und Behaviour Patterns finden in vielen Lebensbereichen Anwendung. Daher ist es an den Entscheidungsarchitekten, dafür zu sorgen, dass diese Stilmittel in einer ethisch und moralisch vertretbaren Art und Weise angewandt werden. Das Nudging-Konzept beruht laut den Autoren auf Freiwilligkeit und Wahlmöglichkeiten. Das Ziel von Nudging ist es, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Menschen bessere Entscheidungen treffen, ohne ihnen die Freiheit zu nehmen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Die Autoren betonen auch, dass es wichtig ist, Transparenz und Offenheit im Nudging-Prozess zu wahren, um sicherzustellen, dass die Menschen über die Entscheidungsarchitektur und ihre Optionen informiert sind (Thaler & Sunstein, 2008).

Doch die Bewertung von Nudges ist sehr individuell und immer auch situationsabhängig. Lesenswert in diesem Kontext ist das Interview mit Ralph Hertwig, dem Direktor des Max Planck Instituts sowie der Artikel und die gesamte Webseite von „Die Debatte“.

Weitere lesenswerte Informationen

Neben dem Buch von Thaler und Sunstein gibt es weitere lesenswerte Quellen zum Thema Nudging. Hierzu gehören aus meiner Sicht (Liste wird stetig erweitert):



Quellen

Die Debatte. (2021). Nudging – Liste mit Beispielen aus der Praxis. Abgerufen am 25. Februar 2023 von https://www.die-debatte.org/nudging-listicle/

Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2008). Nudge: Improving decisions about health, wealth, and happiness. Yale University Press.

Luzerner Zeitung. (2013, 14. Mai). Nudging: Pissoir-Erziehung – alle zielen auf die Fliege. Abgerufen am 25. Februar 2023, von https://www.luzernerzeitung.ch/kultur/nudging-pissoir-erziehung-alle-zielen-auf-die-fliege-ld.87239

Shepard, R. N. (1990). Mind Sights: Original visual illusions, ambiguities, and other anomalies, with a commentary on the play of mind in perception and art. W. H. Freeman.

Spreer, P. (2018). PsyConversion: 101 Behaviour Patterns für eine bessere User-Experience und eine höhere Conversion-Rate im E-Commerce. Springler Gabler: Wiesbaden.

Wirtschaftswoche. (2008, 7. Juli). Zeitdruck im Job: 20.000 Blitzentscheidungen pro Tag. https://www.wiwo.de/erfolg/trends/zeitdruck-im-job-20-000-blitzentscheidungen-pro-tag/5445178.html

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